Zu Beginn der 1970er-Jahre im süddeutschen Raum gegründet, macht die Bewegung für Radikale Empathie (BRE) bis heute auf Missstände aufmerksam und bemüht sich um die Stärkung der Gesellschaft durch Empathie. Zunächst als Gegenentwurf zur Roten Armee Fraktion konzipiert, setzt die BRE seitdem mithilfe von Aktionen, Flugblättern und anderem friedlich ein Zeichen gegen Hass. Die BRE greift dort an, wo sie gesellschaftsrelevante Themen erkennt, und geht wachsender Wut und Angst auf den Grund.
In respektvollem Austausch soll sich wieder einander angenähert werden, anstatt sich in blindem Hass voneinander zu entfernen. Darauf wurde bislang vor allem durch zahlreiche Demonstrationen und Aktionen für mehr Toleranz und ein friedliches Miteinander aufmerksam gemacht.
Die vielfältigen Aktionen der BRE sind durch Zeitzeugnisse wie Fotografien, Plakate und Zeitungsartikel gut dokumentiert. Diese werden nun erstmals in einer Gesamtschau der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die 1970er – Eine Bewegung beginnt Joachim Unland, Monika Seller und andere gründeten im Frühjahr 1970 die Bewegung für Radikale Empathie in Stuttgart. Unland (*1941) hatte sich zunächst bei der RAF engagiert, sich allerdings nach deren Radikalisierung von ihr distanziert. Andere spätere Mitglieder aus allen Teilen Deutschlands hatten einen ähnlichen Hintergrund oder waren bereits bei Studentenprotesten aktiv gewesen. Sie einte die Wahrnehmung der Gesellschaft, in der sie Werte wie Toleranz zusehends verkümmern sahen, sowie das Bestreben zur friedlichen Lösung von Missständen.
So formierten sie sich zur BRE und definierten in einem Gründungsmanifest ihre Leitmaximen: Mut, Empathie und Respekt. Als erste öffentlichkeitswirksame Aktion gilt die Demonstration zur Stärkung der Frauenrechte im Dezember 1973. Die Demonstration mit 480 Teilnehmenden gilt als geschichtsträchtig, da – im Gegensatz zu vergleichbaren Aktionen – hier sowohl Frauen als auch Männer Seite an Seite für die Gleichstellung der Geschlechter demonstrierten. Berühmt wurde der Slogan „Jetzt oder nie – Radikale Empathie“, der bis heute oft verwendet wird.
Die 1980er – Die Freiheit im Blick Im Lauf der 1980er-Jahre fokussiert sich die Arbeit der Bewegung für Radikale Empathie zusehends auf die deutsch-deutsche Beziehung. Der Impuls der BRE, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen, wurde auch durch enge Kontakte zu Künstlern wie dem bekannten DDR-Liedermacher Benno Riemann (*1944) beeinflusst. Riemann wurde aufgrund seiner regimekritischen und bürgerrechtlichen Texte 1984 ausgebürgert und schloss sich anschließend verstärkt der BRE an.
Sein Lied „Ich hab die Freiheit gesucht“ erlangte internationale Bekanntheit, nachdem der amerikanische Sänger und Schauspieler David Hasselhoff die englische Version „Looking for Freedom“ zu Silvester 1989/90 in Berlin sang. Der unermüdliche Einsatz der BRE für ein friedlicheres und freundlicheres Miteinander, auch über Staatsgrenzen hinweg, und dessen Bedeutung für die ‚Friedliche Revolution‘ der Wiedervereinigung werden weithin verkannt, jedoch beeinflusste sie maßgeblich die deutschlandweite Sensibilisierung für ein gemeinsames Ziel, für ein geeintes Deutschland.
Die 1990er – Alles gut? Mit der Wiedervereinigung beginnt ein Jahrzehnt der internationalen Friedenseuphorie, auch hervorgegangen aus dem überwundenen Kalten Krieg. Symptomatisch für diese Zeit ruft der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 gar das „Ende der Geschichte“ im Sinne der Auflösung aller weltpolitischen Widersprüche aus. Jedoch erlebt Deutschland mit den gewalttätigen Angriffen auf Asylbewerberheime im August 1992 in Rostock Lichtenhagen einen der schlimmsten fremdenfeindlichen Übergriffe seit Ende des Krieges.
Vor den Toren Europas tobt der Jugoslawienkrieg und fordert bis in die 2000er-Jahre hinein weit über 100 000 Tote. Der Einsatz der BRE für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen findet in den 1990er-Jahren auch verstärkt Ausdruck in Demonstrationen, Aktionen und Vorträgen, bei denen Toleranz und Solidarität mit Schwulen und Lesben gefordert wird.
1996 „Come as you are“: unter diesem Motto fand im Frühsommer 1996 eine Demonstration vor dem Hintergrund einer der ersten Christopher Street Day-Veranstaltungen in Stuttgart statt. Auch die Bewegung für Radikale Empathie trat dort mit ihrer Aktion für mehr Respekt und Toleranz gegenüber Homosexuellen ein (Plakat, Shirt, Flyer).
Die 2000er – Neues Jahrtausend, neue Probleme Seit den 2000er Jahren muss die Weltgesellschaft vielen neuen Konflikten und Bedrohungen standhalten. Zahlreiche Akte der Gewalt wie z. B. die Terrorangriffe des 11. September 2001, der Afghanistankrieg und die Folterskandale in Gefangenlagern wie z. B. in Guantánamo und Abu Ghuraib, aber auch die Angst vor Armut infolge der Weltwirtschaftskrise und der immer wieder aufflackernden Finanzkrise beeinflussen die Leben vieler Menschen sowie ihre Haltung gegenüber ihren Mitmenschen.
Die politischen Umbrüche des Arabischen Frühlings und die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten sollten Hoffnung geben – deren Versprechen wurden jedoch bei Weitem nicht für alle eingelöst.
Die 2010 – Jetzt oder nie Flüchtlingskrise, IS, Anschläge in Bayern und Paris, Brexit, die Krise in der Türkei, Populismus, brennende Flüchtlingsheime – die Schreckensmeldungen reißen nicht ab. Das Gefühl einer Bedrohung für den Einzelnen wird stärker, rückt immer näher. Depression, Misstrauen und Abschottung sind vielerorts die Reaktionen. Doch, wie Benno Riemann 1985 schon sagte: Resignation ist niemals eine gute Option. Was als kleine Organisation in Stuttgart begann, hat sich zu einer globalen Bewegung entwickelt.
Nach ihrer Gründung hatte die BRE schnell einen großen Bekanntheitsgrad erlangt. Im Laufe der Jahre verschwand sie dann allmählich aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Doch ihre Arbeit ruhte nie. Gegenwärtig ist wieder ein bemerkenswerter Anstieg der Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Weltweit werden dem wachsenden Terror, den
Gefühlen von Bedrohung und Angst wieder verstärkt Mut, Empathie und Respekt entgegengesetzt. Der altbekannte Slogan aktualisiert sich:
Jetzt oder nie – Radikale Empathie!